Die rationale und irrationale Doppelfunktion des Staates und der Staatsidee wurde bereits von Friedrich Engels im vorigen Jahrhundert klargestellt:

"Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungene Macht; ebensowenig ist er 'die Wirklichkeit der sittlichen Idee', 'das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft', wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einem unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der 'Ordnung' halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat."

Diese sozial-wissenschaftliche Aufhellung des Staatsbegriffs durch den Fabrikbesitzer und deutschen Soziologen Friedrich Engels hat sämtlichen Staatsphilosophen, die sich auf die eine oder andere Weise letzten Endes auf die platonische abstrakte und metaphysische Staatsidee zurückführen, den Boden entzogen. Die Staatstheorie von Friedrich Engels führt den Staatsapparat nicht auf höhere Werte und nationalistische Mystik zurück, sondern sie gibt in einfacher Weise ein Bild von der Doppelnatur des Staates: Indem sie die gesellschaftlichen Grundlagen des Staatsapparates darlegt und gleichzeitig den Widerspruch zwischen Staat und Gesellschaft herausstellt, gibt sie sowohl dem weisen Staatsmann, etwa vom Format eines Masaryk oder Roosevelt, wie jedem einzelnen arbeitenden Erdbürger ein mächtiges Mittel in die Hand, die Zerklüftung der Gesellschaft und mit ihr die Notwendigkeit einer Staatsapparatur zu begreifen ... und zu beseitigen.

Versuchen wir nun, die Doppelnatur des Staates an einem einfachen Beispiel in ihrem Werdegang zu begreifen:

In den ersten Anfängen der menschlichen Zivilisation waren die gesellschaftlichen Aufgaben des Zusammenlebens und der Arbeit in einfacher Weise zu bewerkstelligen. Daher waren auch die zwischenmenschlichen Beziehungen einfach. Diesen Tatbestand können wir an den Resten dieser alten einfachen Zivilisation studieren, die sich noch bis in unsere Zeit hinein fortgesetzt und erhalten haben. Orientieren wir uns wieder an der uns bekanntesten Organisation der Trobriander. Sie leben in Naturalwirtschaft, d.h. sie haben eine Gebrauchswirtschaft und noch keine Warenwirtschaft von Belang. Der eine Clan fängt Fische, der andere zieht Gartenfrüchte auf. Der eine hat zuviel Fische und der andere zu viele Gartenfrüchte. Sie tauschen daher Fische gegen Gartenfrüchte und umgekehrt aus. Ihr wirtschaftliches Produktionsverhältnis ist sehr einfach.

Neben dem wirtschaftlichen gibt es ein bestimmtes familäres zwischenmenschliches Verhältnis. Da die sexuellen Paarungen exogam sind, tritt die trobriandrische Jugend des einen Clans in Beziehung sexueller Natur mit einem anderen Clan. Wenn wir unter einem sozialen zwischenmenschlichen verhältnis jede beziehung verstehen, die der Befriedigung eines biologischen Grundbedürfnises dient, dann stehen die sexuellen Verhältnisse in voller und gleichberechtigter Funktion neben den wirtschaftlichen Verhältnissen. Je mehr nun die Teilung der Arbeit zur Befriedigung der Bedürfnisse fortschritt und die Bedürfnisse selbst komplizierter werden, desto weniger kann das einzelne arbeitende Mitglied der Gesellschaft die ihm zufallenden vielfältigen Funktionen erfüllen. Zum Beispiel:

Versetzen wir unsere naturwissenschaftliche Gesellschaft der Trobriander in eine beliebige Gegend Europas oder Asiens. Diese Annahme ist zulässig, denn sämtliche Nationen dieser Erde sind aus Volksstämmen, und die Volksstämme sind ursprünglich aus Clangruppen hervorgegangen. Ebenso ging überall der Waren- und Geldwirtschaft die Naturalwirtschaft voraus. Nehmen wir nun an, daß in einer solchen kleinen Ortschaft von 200 oder 300 Mitgliedern das Bedürfnis, mit anderen kleinen Ortschaften in Verkehr zu treten, rege wird. Dieses Bedürfnis ist noch klein, es hat nur ein Mensch unter 200 das Bedürfnis einem anderen Menschen einer anderen Ortschaft eine Mitteilung zu machen. Er setzt sich auf sein Pferd und reitet in die andere Ortschaft, um seine Nachricht zu übermitteln. Die Technik der Buchstabenschrift ist aufgekommen, und das Bedürfnis nach sozialem Verkehr mit anderen Ortschaften wächstlangsam. Bisher war jeder sein eigener Postbote, nun aber wird der Reiter gebeten, mehrere Briefe zu übernehmen und zu befördern. Die Ortschaften werden größer und umfassen nun bereits 2000 oder 5000 Menschen. Hundert Mitglieder der einen Ortschaft entwickeln das Bedürfnis, mit hundert Mitgliedern der anderen Ortschaft in brieflichem Verkehr zu stehen. Mit der Entwicklung des Warenverkehrs hat das Briefschreiben aufgehört, ein seltenes Kuriosum zu sein. Das Briefebefördern wird zu einer alltäglichen, lebensnotwendigen und immer schwerer auf die alte Weise zu bewältigenden Aufgabe. Unsere Ortschaft berät nun darüber und beschließt, einen "Briefträger" anzustellen. Sie enthebt dazu einen ihrer Mitbürger, der sich noch in nichts von seinem Kameraden unterscheidet, von allen anderen Arbeiten, garantiert ihm seinen Lebensunterhalt und verpflichtet ihn dafür, der Gemeinschaft das befördern der Briefe zu besorgen. Dieser erste Briefträger ist die menschlich verkörperte zwischenmenschliche Beziehung des Briefeschreibens und -beförderns. Auf diese Weise entstand ein gesellschaftliches Organ, das noch nichts anderes tut, als den Auftrag der vielen Briefeschreiber durchzuführen. Unser Briefträger ist ein primitiver Typus von gesellschaftlichem Administrator, dessen lebensnotwendige Arbeit noch durchaus und strenge im Dienste der sozialen Gesellschaft steht.

Nehmen wir nun weiter an, daß die primitiven Ortschaften sich im Laufe vieler Jahre, nicht zuletzt auch infolge der neuen Funktion des Briefeschreibens und des damit entwickelten sozialen Verkehrs, zu kleinen Städten von, sagen wir, je 50.000 Einwohnern entwickelt haben. Ein Briefträger genügt nicht mehr, es sind nun 100 Briefträger notwendig. Diese 100 Briefträger benötigen nun eine eigene Administration in Gestalt eines Oberbriefträgers. Dieser Oberbriefträger ist ein früherer einfacher Briefträger, der der Pflicht des Briefeübermittelns enthoben wurde. Er hat dafür die umfassendere Pflicht übernommen, die Tätigkeit der 100 Briefträger auf die praktischste Weise einzurichten. Er "überwacht" noch nichts und er befiehlt noch nichts. Er ragt aus der Gemeinschaft der Briefträger noch nicht heraus. Er erleichtert bloß den 100 Briefträgern die Arbeit, indem er die Tageszeiten bestimmt, in denen Briefe ausgehoben und verteilt werden. Er kommt auch auf die Idee, Briefmarken anzufertigen, die die gesamte Funktion vereinfachen.

Auf diese Weise hat sich eine einfache, lebensnotwendige Funktion der Gesellschaft verselbstständigt. "Die Post" wurde zu einem "Apparat" der Gesellschaft, der aus ihr zum Zwecke ihres besseren Zusammenhalts herauswuchs, ohne aber noch dieser Gesellschaft als übergeordnete Macht entgegenzutreten.

Wie ist es nun möglich, daß ein solcher administrativer Apparat der Gesellschaft zu einem unterdrückenden Gewaltapparat wird? Das wird er nicht aufgrund seiner ursprünglichen Funktion. Der administrative Apparat behält diese sozialen Funktionen bei, aber er entwickelt allmählich andere Eigenschaften neben seiner lebensnotwendigen Tätigkeit. Nehmen wir nun an, daß sich in unserer großgewordenen Ortschaft bereits die Zustände des autoritären Patriachats ganz unabhängig von der Post zu entwickeln begannen. Es gibt z.B. bereits Großfamilien, die sich aus den ursprünglichen Stammeshäuptlingen entwickelt haben. Sie haben durch Akkumulation von Heiratsgut zweierlei Macht entwickelt: erstens die Macht, die aus Besitz stammt, und zweitens die Macht, den eigenen Kindern den sexuellen Verkehr mit den weniger wohlhabenden Schichten der Gemeinschaft zu verbieten. Diese zwei Machtfunktionen gehen in der Entwicklung der ökonomischen und sexuellen Sklaverei immer Hand in Hand. Der immer mächtiger werdende autoritäre Patriarch will verhindern, daß andere, schwächere Mitglieder der Gemeinschaft ihren Verkehr mit anderen Ortschaften ungehindert aufrechterhalten. Er will auch verhindern, das seine Töchter mit beliebigen Männern Liebesbriefe wechseln. Er ist daran interessiert, daß seine Töchter sich nur bestimmten wohlhabenden Männern verbinden. Seine Interessen der sexuellen und ökonomischen Unterdrückung bemächtigen sich nun ganz natürlicherweise derjenigen verselbstständigten sozialen Funktionen, die ursprünglich von der Gesamtgesellschaft betraut wurden. Unser Patriarch wird nun aufgrund seines wachsenden Einflusses die Bestimmung durchsetzen, daß die Post nicht mehr alle Briefe ohne Unterschied, sondern nur bestimmte Briefe befördert und andere Briefe ausschließt, z.B Liebesbriefe im allgemeinen und Geschäftsbriefe bestimmter Art. Um diese neuartige Funktion zu erfüllen, bestimmt die Post einen Briefträger mit der Aufgabe der "Postzensur". Die gesellschaftliche Administration des Briefverkehrs erwirbt derart eine zweite Funktion, die sie von nun an der Gesamtgesellschaft als autoritäre Obrigkeit gegenüberstellt. Der erste Schritt zur Entwicklung eines autoritären Staatsapparats aus einem gesellschaftlichen Administrationsapparat ist damit getan. Die Briefträger befördern zwar noch immer Briefe, aber sie schnüffeln auch schon im Inhalt der Briefe herum und beginnen zu bestimmen, wer schreiben darf und wer nicht, was geschrieben werden darf und was nicht. Darauf reagiert die soziale Gemeinschaft entweder mit Duldung oder mit Protest. Die erste Kluft in der sozialen Gemeinschaft ist entstanden, man mag sie "Klassengegensatz" oder anders nennen. Es kommt hier nicht auf Worte, sondern auf die Unterscheidung lebensnotwendiger und freiheitsbehindernder sozialer Funktionen an. Von nun an stehen der Willkür Tür und Tor offen. Es können sich zum Beispiel Jesuiten der Postzensur zu ihren eigenen Zwecken bedienen. Die Sicherheitspolizei vermag die vorhandene Postzensur zur Steigerung ihrer eigenen Macht zu benützen.

Dieses vereinfachte Beispiel läßt sich leicht auf die komplizierte Maschinerie der heutigen Gesellschaft anwenden, ohne die Dinge zu verzerren. Es betrifft unser Bankwesen, unsere Polizei und unser Schulsystem, die Administration der Lebensmittelverteilung und gewiß die Vertretung der Gesellschaft gegenüber anderen Nationen. Wir gewinnen Orientierung im Chaos, wenn wir konsequent bei der beurteilung einer beliebigen Staatsfunktion uns fragen, was an ihr ihrer ursprünglichen Funktion, gesellschaftliche Aufträge zu vollziehen, und was an ihr der erst später erworbenen Funktion, die Freiheit der Gesellschaftsmitglieder zu unterdrücken, entspricht. Die Sicherheitspolizei eines New York oder Berlin hatte ursprünglich die Aufgabe, die Gemeinschaft vor Mord und Diebstahl zu schützen. Insofern sind sie noch immer nützliche und verselbstständigte Funktionen der Gesellschaft. Wenn aber die Sicherheitspolizei es sich herausnimmt, harmlose Spiele in Privathäusern zu verbieten oder den Menschen vorzuschreiben, ob sie Menschen anderen Geschlechts allein in ihren Wohnungen empfangen dürfen, wann sie aufzustehen und wann sie zu Bett zu gehen zu haben, dann haben wir das Bild einer tyrannisch-autoritären Staatsgewalt vor uns, einer Staatsgewalt über der Gesellschaft und gegen die Gesellschaft.

Die Ausschaltung derjenigen Funktionen der sozialen Administration, die über der und gegen die Gesellschaft funktionieren, ist eine der Arbeitsdemokratie innewohnende Tendenz. Der natürliche arbeitsdemokratische Prozeß verträgt keine anderen administrativen Funktionen als solche, die dem Zusammenhalt der Gesellschaft und der Erleichterung ihrer Lebensfunktionen dienen. Daraus geht klar hervor, daß man nicht mechanisch starr "gegen" oder "für" den "Staat" sein kann. Man muß im Sinne der früheren Auseinandersetzung unterscheiden. Es wird weiter klar, daß der Staatsapparat wieder zum Exekutionsorgan der Gesellschaft wird und werden muß, wenn er in Erfüllung seiner natürlichen Arbeitsfunktionen im Interesse der Gesamtgesellschaft operiert. Damit aber hört er auf, "Staatsapparat" zu sein, verliert er garade diejenigen Eigenschaften, die ihn der Gesellschaft entfremden, ihn über sie und gegen sie stellen und ihn derart zum Keime autoritärer Diktaturen machen. Dies ist ein echtes Absterben des Staates. Es ist das Absterben einzig und allein seiner irrationalen Funktionen. Die rationalen Funktionen sind lebensnotwendig und bleiben bestehen.

Diese Unterscheidung ermöglicht es, jede lebensnotwendige, administrative Funktion rechtzeitig darauf zu prüfen, ob sie sich neuerdings gegen und über die Gesellschaft zu stellen versucht, also zu einem neuen autoritären Staatsinstrument zu werden beginnt. Solange sie ein Diener der Gesellschaft ist, ist sie auch ein Stück von ihr, ist sie willkommen, notwendig und gehört ins Gebiet der lebensnotwendigen Arbeit. Wirft sie sich aber zum Herrn, zum Tyrannen der Gesellschaft auf, beansprucht sie verselbstständigte Macht, dann wird der Staatsapparat zum Todfeind der Gesellschaft und muß dementsprechend von ihr behandelt werden.

Es bedarf keiner weiteren Beweise, daß keine der modernen und komplizierten sozialen Organismen ohne administrativen Apparat existieren könnte. Es ist ebenso klar, daß die Tendenz zur staatlichen Entartung nicht prinzipiell ausgerottet werden kann. Hier ergibt sich ein weites Forschungsgebiet für den Soziologen und Sozialpsychologen. Ist einmal der autoritäre Staat gestürzt, dann bleibt die Aufgabe bestehen, eine Wiederholung der autoritären Verselbstständigung von Administrationen zu verhindern. Da nun diese Verselbstständigung unmittelbare Folge der Unfähigkeit der arbeitenden Menschenmassen ist, ihre Affairen selbst einzurichten, zu verwalten und sich selbst zu kontrollieren, kann nie mehr das Problem des autoritären Staates ohne das Problem der Menschenstruktur, und umgekehrt, behandelt oder bewältigt werden.

Wilhelm Reich, die Massenpsychologie des Faschismus
ab Seite 244 - USA 1942 - BRD 1970
ISBN 3-462-01794-2

 

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