Intimfeind Martin Luther King
Grimmig verfolgte der FBI-Chef den schwarzen Prediger Dr. Martin
Luther King. Schon 1957 war über den Geistlichen aus Atlanta
(Georgia), der im Mai des Jahres als Präsident der Konferenz
Christlicher Führer des Südens (Southern Christian Leadership
Conference - SCLC) auf einem Pilgermarsch nach Washington vor 35.000
Demonstranten gesprochen hatte, beim FBI eine Akte unter dem Stichwort
"Rassenangelegenheiten" eingerichtet worden.
Man kreidete dem SCLC an, sich für die "Registrierung von Negerwählern
der Südstaaten" einzusetzen.
In dem Maß, wie die Bürgerrechtsbewegung anwuchs, verstärkten sich die
geheimpolizeilichen Nachstellungen. Dabei wurde nach bekanntem Muster
vorgegangen, indem man angebliche Querverbindungen zu Kommunisten
konstruierte.
Am 8. Januar 1962 sandte der FBI-Direktor Justizminister Robert
Kennedy ein vertrauliches Memorandum, das unterstellte, Kings enger
Freund, der New Yorker Anwalt Stanley Levison, sei Mitglied der KP der
USA. Nur einen Monat später ließ Hoover den Pfarrer als eine Person
erfassen, die unter dem Verdacht subversiver Tätigkeit stehe.
So geriet King als im Notstandsfall zu internierender "Kommunist" auf
den Index. Im Juni 1962 ging dem Präsidentenbruder ein zweites
Memorandum zu. Darin wurde behauptet, der Mitarbeiter des SCLC- Stabes
Jack O'Dell gehöre dem Nationalkomitee der KP der USA an. Diese
Erfindung brachte man auch in den "Augusta Chronicle", wo es hieß,
der "führende Kommunist O'Dell" sei "Amtierender Exekutivdirektor der
Organisation". King antwortete darauf am 30. Oktober, indem er
erklärte, niemand mit bekannten kommunistischen Bindungen bekleide im
SCLC Funktionen. Ungeachtet dessen wies Hoover die FBI-Feldbüros an,
im Rahmen des COMINFIL-Programms umfassende Informationen über Kings
Freundeskreis zu sammeln. Inzwischen waren weitere Einzelheiten über
die beiden angeblichen Kommunisten im SCLC bekanntgeworden. Es stellte
sich heraus, daß Levison 1954 der Labor Youth League angehörte, die
das FBI als subversiv, aber nicht mit der KP liiert, erfaßt hatte.
Zwischen Januar und Juni 1963 wurde das Justizministerium mit
FBI-Memoranden buchstäblich bombardiert. In ihnen hieß es, King habe
den Kontakt zu Levison und O'Dell nicht abgebrochen. Am 22. Juni
trafen John und Robert Kennedy, mit dem vom FBI Denunzierten zusammen.
Kurz darauf berichtete King seinem damaligen Mitstreiter, dem späteren
UNO-Chefdelegierten der USA und Bürgermeister von Atlanta, Andrew
Young, es habe "einen Versuch gegeben, die Bewegung auf der Basis
kommunistischen Einflusses anzuschwärzen". Präsident Kennedy habe ihm
bei einem Spaziergang durch den Rosengarten des Weißen Hauses gesagt:
"Ich nehme an, Sie wissen, daß Sie unter sehr dichter Überwachung
stehen." Gewisse Kontakte könnten überdies die in Vorbereitung
befindliche Bürgerrechtsgesetzgebung in Gefahr bringen.
Massiver Druck Washingtons führte dazu, daß Levison aus der SCLC, der
er seit ihrer Gründung angehört hatte, austrat. O'Dell wurde von King
mitgeteilt, sein Arbeitsverhältnis mit der Organisation sei beendet.
Doch Hoover gab sich selbst damit nicht zufrieden. Am 29. Juli 1963
sandte er einen Bericht an Robert Kennedy, der den Titel trug: "Martin
Luther King: Verbindungen mit der kommunistischen Bewegung". Gefordert
wurde jetzt, sämtliche Telefonanschlüsse des Geistlichen abzuhören.
Drei Monate später ermächtigte der Justizminister das FBI, Kings
Gespräche für die Dauer von zwei Jahren mitzuschneiden.
Der Erfolg des Marsches der 250.000 Apartheidgegner, die am 28. August
1963 nach Washington zogen, versetzte den FBI-Direktor in Rage. Obwohl
nur ein Marschblock aus 200 KP-Mitgliedern an der Manifestation
teilgenommen hatte, beschwor Hoover einmal mehr die "kommunistische
Gefahr". In einem Memorandum wurde King folgendermaßen
charakterisiert: "Wir müssen ihn jetzt ... vom Standpunkt des
Kommunismus, der Neger und der nationalen Sicherheit als den
gefährlichsten Neger der Zukunft dieser Nation kennzeichnen."
Am 18. Oktober brachte die FBI-Zentrale ein weiteres Dokument mit
persönlichen Angriffen auf King in Umlauf, das erstmals auch der CIA,
dem Pentagon und den Geheimdiensten der Streitkräfte zugestellt wurde.
Unmittelbar nach der Ermordung Präsident Kennedys am 22. November 1963
beriet das FBI auf einer Konferenz, wie die "Demontage Dr. Kings"
vonstatten gehen sollte. Es wurde beschlossen, "alle verfügbaren
Techniken" einzusetzen, um den Prediger in Mißkredit zu bringen. Dabei
wollte man andere Priester, "verärgerte« Bekannte, "aggressive"
Journalisten und "farbige" Agenten verwenden. Es begann die
Rund-um-die-Uhr-Beschattung Kings durch Detektive und Fotografen des
FBI. Sein Zimmer im Washingtoner Willard-Hotel wurde in der Hoffnung
"verwanzt", dem Geistlichen moralische Verfehlungen nachweisen zu
können.
Im Dezember 1963 war King von "Time" zum "Mann des Jahres" gewählt
worden. 1964 ernannten ihn mehrere Universitäten zum Ehrendoktor. In
Rom wurde er von Papst Paul VI. in Privataudienz empfangen. Mitte
Oktober erkannte man dem Führer der US-Bürgerrechtsbewegung den
Friedensnobelpreis zu. Die feierliche Übergabe der Auszeichnung sollte
im Dezember stattfinden.
Während all dies geschah, setzte Hoover seine Intrigen fort. Auf die
"Time"-Entscheidung reagierte er mit der Notiz: "Sie haben tief im
Müll wühlen müssen, um mit dem hier aufzuwarten." Der FBI-Chef hatte
zuvor alles nur Erdenkliche unternommen, um King in den Augen des
Nationalrats der Kirchen herabzusetzen. Kardinal Francis Spellman
wurde sogar gebeten, den Papst zum Verweigern der Audienz zu bewegen.
Als Antwort auf die Verleihung des Nobelpreises ließ Hoover eine
diffamierende "King-Monographie" verfassen. Zugleich bot das FBI
verschiedenen Zeitungsleuten Tonbandaufzeichnungen aus dem
Willard-Hotel an, die Kings Intimsphäre preisgaben. Es fand sich in
Washington niemand, der die gehässige Kampagne zu stoppen bereit
gewesen wäre. Der neue Präsident Lyndon B. Johnson fürchtete den
FBI-Direktor und wollte sich - wie seine Vorgänger und sein Naehfolger
- nicht mit ihm anlegen, da es besser sei, "daß er aus dem Zelt
hinaus- als in das Zelt hineinpißt".
So konnte Hoover Martin Luther King ungestraft als "einen der
niedrigsten Charaktere" und "notorischsten Lügner" des Landes
beschimpfen. Auf dem Höhepunkt des Nervenkrieges gegen den Prediger
kam es erstaunlicherweise zu einer Begegnung der beiden Männer.
Offiziell wurde dabei ein "Waffenstillstand" ausgehandelt. Wie weit
das FBI in seinem Haßfeldzug gegen King gegangen war, erfuhr man erst
später. Das Hauptquartier der Geheimpolizei hatte die erwähnten
"Hotel-Tonbänder" an das SCLC-Büro in Atlanta geschickt. Ein
Begleitbrief forderte den Bespitzelten auf, entweder Selbstmord zu
begehen oder die Veröffentlichung der Mitschnitte am Vorabend der
Nobelpreisverleihung in Kauf zu nehmen. "King, Dir ist nur noch eins
zu tun geblieben. Du weißt, was das ist. Du hast noch 34 Tage Zeit ...
Du bist fertig. Es gibt nur einen Ausweg für Dich ...", stand in dem
Brief, der genau 34 Tage vor der Zeremonie in Oslo zugestellt wurde.
Von 1965 bis zu Kings Ermordung am 4. April 1968 setzte das Bureau
seine Bestrebungen zur "Ausschaltung" des Geistlichen trotz des
"Waffenstillstands" fort. Bis 1967 wurde die polizeistaatliche
Überwachung mit höchster Genehmigung betrieben. Erst Justizminister
Ramsey Clark verweigerte sein Ja zur Weiterführung der Maßnahmen.
Beim Bureau war besonders die Tatsache aufmerksam registriert worden,
daß sich die politischen Ansichten Kings unter dem Einfluß der
Ereignisse in Vietnam und in den Vereinigten Staaten selbst deutlich
verändert hatten. Dabei bildete die Predigt, die er am 4. April 1967
in der New Yorker Riverside Church hielt, einen markanten Einschnitt.
"Ich wurde zunehmend zu der Erkenntnis gedrängt, daß der Krieg ein
Feind der Armen ist und daß er als solcher attackiert werden muß", war
von King in jener Nacht verkündet worden. Schwarze, braune und weiße
GIs würden im Namen von Freiheiten nach Vietnam geschickt, die man
ihnen im eigenen Land verweigere. "Ich könnte niemals wieder meine
Stimme gegen die Gewalt in den Ghettos erheben, ohne mich zuerst
eindeutig gegen den größten Verursacher von Gewalt in der heutigen
Welt ausgesprochen zu haben - meine eigene Regierung", erklärte King.
Welche Haßausbrüche dessen nachfolgende Worte bei Hoover ausgelöst
haben dürften, kann man sich unschwer vorstellen: "Dies sind
revolutionäre Zeiten." In der ganzen Welt revoltierten die Völker
gegen "alte Systeme der Ausbeutung und Unterdrückung". Der Westen aber
habe sich "aus tödlicher Furcht vor dem Kommunismus auf die Seite der
Antirevolutionäre geschlagen".
Auf den Tag genau ein Jahr nach der Riverside-Church-Rede wurde Martin
Luther King in Memphis (Tennessee) erschossen. Wenige Wochen vor dem
Attentat - am 23. Februar 1968 - hatte er in der New Yorker Carnegie
Hall auf einer Festveranstaltung zum 100. Geburtstag von William E.B.
DuBois das politische Vermächtnis des berühmten afroamerikanischen
Gelehrten, der noch im Alter von 93 Jahren der KP der USA beigetreten
war, nachdrücklich verteidigt. "Der Antikommunisnmus hat uns zu oft in
den Morast geführt", lautete Kings Feststellung.
Als King unmittelbar vor seinem gewaltsamen Ende das Washingtoner
Frühlingsprojekt verkündete, aus dem später die Arme-Leute-Kampagne
wurde, ließ Hoover noch einmal seine berüchtigte "Monographie" in
Umlauf setzen. Während Millionen Amerikaner um den toten
Bürgerrechtler trauerten und der US-Kongreß bereits über später
verwirklichte Vorschläge debattierte, Kings Geburtstag zum
Nationalfeiertag zu erklären, suchten FBI-Beamte die Abgeordneten auf,
um sie über "Erkenntnisse aus dem Willard-Hotel" zu informieren. So
war es nur logisch, daß das FBI nach dem Mord alles Erdenkliche tat,
um die Spuren des Verbrechens zu verwischen und mit James Earl Ray
einen "Einzeltäter" zu präsentieren.
Der durch Indizien überführte und überdies geständige Attentäter habe
King vom Fenster eines gegenüberliegenden Hauses auf dem Balkon seines
Zimmers im Lorraine Motel mit einem Scharfschützengewehr getötet,
behauptete das FBI.
Der angebliche Akteur des Verbrechens vermied einen aufwendigen
Geschworenenprozeß und entging der ihm drohenden Todesstrafe durch
"Bargaining" - einen in den USA üblichen Kuhhandel der Anwalte mit dem
Richter, der nur dann stattfinden kann, wenn sich der Angeklagte ganz
oder teilweise schuldig bekennt. Ray wurde zu einer Freiheitsstrafe
von 99 Jahren verurteilt. Hoover wollte ihn auf Nimmerwiedersehen
hinter Gefängnismauern verschwinden lassen. So nützte es Ray auch
nichts, daß er sein vom FBI erpreßtes Geständnis bald widerrief, seine
Unschuld beteuerte und ein ordentliches Gerichtsverfahren forderte.
Doch am 28. Marz 1997 berichtete die "International Herald Tribune"
von einer ungewöhnlichen Begegnung in der Lois DeBerry Special Needs
Facility - dem Haftkrankenhaus für schwere Fälle des Staates
Tennessee. Dexter King, ein Sohn des Baptistenprediers, war mit dem
inzwischen 69jährigen Ray zu einem Gespräch zusammengetroffen. Auf
dessen erneute Versicherung, nicht der Mörder gewesen zu sein,
erwiderte King Jr. der Pressemeldung zufolge: "Ich glaube Ihnen, und
meine ganze Familie glaubt Ihnen. Wir werden alles in unserer Macht
Stehende tun, damit die Gerechtigkeit den Sieg davonträgt. Denn noch
sind nicht alle Fragen beantwortet." Am 23. April 1998 verstarb Ray im
Alter von 70 Jahren an Leber- und Nierenversagen in einem Gefängnis in
Nashville (Tennessee). Es sei eine "Tragödie", daß Ray ohne eine
Wiederaufnahme des Prozesses gestorben sei, erklärte die Witwe des
Friedensnobelpreisträgers Coretta Scott King. Die King-Familie hält
Ray seit einiger Zeit für unschuldig und setzte sich für eine
Wiederaufnahme des Verfahrens ein. Der Mann aber, der die Frage um die
Täterschaft mit absoluter Sicherheit hätte beantworten können - J.
Edgar Hoover -, ist tot. Er hat sein Geheimnis - wie auch das um den
Mord an Präsident John F. Kennedy - mit ins Grab genommen.